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BreakpointWir alle sollten mehr übereinander wissen

Auf Social Media wird Reichweite massenhaft mit intimen Details erzeugt. Während wir Fremden beim Oversharing zusehen, verlieren wir den Blick für die Menschen, die wirklich zählen. Wir wissen nicht zu viel übereinander, findet unsere Kolumnistin: Wir wissen das Falsche über die falschen Personen.

Fenster in einer weißen Wand, darin brennt ein Licht. Schwarz-weiß.
Von wem wissen wir was? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com sq lim

Es gibt Momente auf sozialen Medien, die man so sonst nicht mit völlig Fremden erlebt: Wenn ein Creator auf TikTok erklärt, welche neue Sexualpraktik sein Leben verändert hat. Wenn eine Instagram-Story intime Beziehungskonflikte mit der Welt teilt. Oder wenn ein Video namens „Get ready with me, während ich erkläre, was es mit meinem veränderten Stuhlgang auf sich hat“ plötzlich auf der eigenen For-You-Page landet. In solchen Momenten taucht ein Meme zuverlässig in den Kommentaren auf: ein Screenshot eines New-York-Times-Artikels mit dem Titel „We should all know less about each other“.

Der Artikel aus dem Jahr 2021 beschäftigte sich eigentlich mit den Polarisierungsmechanismen politischer Internetbubbles. Heute steht der Meme-gewordene Satz hauptsächlich unter Videos, in denen Menschen über ihre Kinks sprechen oder den Streit mit ihrem Partner nachstellen. Solche Inhalte scheinen in den gängigen sozialen Medien immer populärer zu werden und ihre Aufrufzahlen sind oftmals höher als bei anderen Videos desselben Accounts. Intimität ist zur öffentlich handelbaren Ressource geworden.

Aus Tabus wird Reichweite

Besonders persönliche Inhalte klicken sich eben besonders gut. Was früher als Tabuthema galt, ist heute Reichweitenquelle. Je intimer der Inhalt, desto stärker die Reaktion des Publikums. Likes, Shares und Kommentare sind längst Teil einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der Selbstöffnung taktisch eingesetzt wird.

Hierbei geht es mir explizit nicht um diejenigen, die über Sex, Verhütungsmethoden, ihre chronische Krankheit oder andere tabuisierte Themen aufklären. Wir sollten nicht aufhören, Themen sichtbar zu machen, nur weil diese angeblich als anstößig wahrgenommen werden könnten. Es geht um das gezielte Verkaufen einer vermeintlich realen eigenen Intimität. Sie ist nicht viel mehr als eine Währung, auf die unserer Voyeurismus einzahlt.

Dabei werden nicht nur einwilligungsfähige Erwachsene zu Protagonist:innen eines digitalen Reality-Formats. Auch Kinder tauchen in viralen Challenges auf, obwohl sie der Veröffentlichung nicht zustimmen können.

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Menschen mit Behinderungen werden für emotionalisierte Storytelling-Formate instrumentalisiert. Damit werden sie zum Material für algorithmisch optimierte Erzählungen. Warum manche Accountbetreiber scheinbar alles für die Likes tun und wem das schadet, durfte ich hier bereits vor über zwei Jahren aufschreiben.

Aber nicht nur gesellschaftliche Aspekte machen das ungefilterte Teilen intimster Details fragwürdig: Das massenhafte Sammeln und die zunehmende Verwertung von Daten durch Plattformbetreiber, etwa zum Trainieren ihrer generativen KIs, macht es unklug, allzu viele intime Informationen über sich zu teilen. Gerade gesundheitsbezogene, sexuelle oder reproduktive Inhalte gehören zu den sensibelsten Daten, die nicht leichtfertig in sozialen Medien veröffentlicht werden sollten – und gleichzeitig zu jenen, die oft besonders hohe Klickzahlen hervorrufen.

Inszenierte Intimität

Doch viele dieser „intimen Einblicke“ sind gar nicht intim. Sie sind Inszenierungen. Große Accounts produzieren Erzählungen über ihr Datingleben, ihre Konflikte oder ihre Sexualität, die eher an Mini-Episoden einer Soap erinnern als an Alltagserfahrungen. Professionalisierte Creator-Strukturen entwickeln Drehbücher und konstruieren Geschichten, die in erster Linie Engagement erzeugen sollen. Einem viralen Influencer zu folgen, ist heute das Gleiche wie eine Netflixserie zu schauen.

Wer regelmäßig viral gehen will, erzählt wahrscheinlich nicht mehr oft aus seinem Leben, sondern schreibt ein Drehbuch. Die angebliche Transparenz ist Kulisse. Die Millionen Follower:innen sehen ein ausgeklügeltes Skript und nicht das Leben einer realen Person. Das Ergebnis ist paradox: Wir meinen, viel zu viel von anderen zu wissen: zu intime Details in zu exhibitionistischen Geschichten. Tatsächlich wissen wir aber in Wirklichkeit weniger.

Während wir durch inszenierte Dramen scrollen, verlieren wir den Kontakt zu den Menschen, deren Alltag tatsächlich relevant wäre: Freund:innen, Familie, Kolleg:innen. Zwischen Lohnarbeit und vier, fünf oder sechs Stunden täglichem Doomscrolling lässt sich kaum noch die Zeit finden, reale Personen zu treffen und echte Gespräche zu führen.

Uns fehlen dieses Jahr noch 274.578 Euro.

Soziale Medien erzeugen eine doppelte Verschiebung: Erstens ersetzt der Konsum pseudointimer Inhalte die echte Auseinandersetzung mit realen Personen. Zweitens verschiebt sich unsere Wahrnehmung dessen, was „normal“ ist. Die dramaturgische Überhöhung sozialer Medien macht reale Erfahrungen unscheinbar. Warum sich für einen ehrlichen Austausch über Gefühle oder Beziehungen interessieren, wenn die Timeline mit Skandalen, Geständnissen und emotionalen Extremzuständen gefüllt ist?

Das Falsche von den Falschen

Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht, dass wir „zu viel“ voneinander wissen. Sondern dass wir das Falsche von den falschen Personen wissen. Wir erfahren intime Details, die entweder künstlich produziert sind oder die niemals für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Und zugleich wissen wir immer weniger über die Menschen, die unser Leben wirklich ausmachen.

Wenn wir wieder mehr von den Menschen um uns herum wissen wollen, müssen wir uns weniger für die Schauspieler:innen in unseren Feeds interessieren. Und welche Details wir selbst auf Instagram oder TikTok teilen, sollten wir uns auch besser zweimal überlegen: Nicht aus Prüderie, sondern aus Selbstschutz vor Datensammlung, emotionaler Abstumpfung und um die Beziehungen zu pflegen, die nicht algorithmisch optimiert sind.

Es tut gut, mit Freunden über das eigene Datingleben zu quatschen, mit seinem Vater über die Gesundheit und mit der besten Freundin über den letzten Sex – und es stärkt die Beziehung, wenn sie das ebenso tun. Diese Zeit und Kapazität sollten wir einander einräumen. Auch wenn das ab und zu bedeutet, auf den Dopaminrausch via Instafeed zu verzichten.

Wir alle sollten wieder mehr voneinander wissen. Darauf, auf sozialen Medien darüber zu posten, sollten wir hingegen verzichten.

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5 Ergänzungen

  1. Ich sehe da noch eine Hmm „Gefahr“. Ich meine es wäre im Roman Qualityland gewesen (oder einer ähnlichen Dystopischen Erzählung) in der sich an einer Stelle Frauen ENTSETZT darüber ausließen das ein oberflächlich Interessant wirkender Mann keinerlei Profil in irgend einem Sozialen Netzwerk hätte und man quasi NICHTS über ihn wissen könne. Und sich aus Unwissen oder Dummheit dazu verstiegen er könne dann ja kein Guter sein, hätte was zu verbergen(TM), womöglich wäre er ein Vergewaltiger, Kinderschänder oder… (wobei unklar ist wie das noch gehen soll).

    Kurz: Zu Viel Information aber kein Wissen (z.b. aus Persönlicher Erfahrung, Empathie, Unterhaltungen) führt dann auch leicht zu Phantastischen Übertreibungen die einfach nur noch Fake wären. Oder Verleumdung, Üble Nachrede und/oder jemanden der bei dem Zirkus nicht mit machte Sozial und dann auch im RL ausgrenzten. So könnte die Zukunft wirklich mal werden!
    War nur ein Beispiel, könnte ebenso laufen mit umgekehrten Geschlechterzuordnungen. Falls Männer sich je über so was den Kopf zerbrechen… Woher soll man das wissen!? Aus einem Inszenierten Video etwa? ;-)

  2. Zunächst: Ernsthaft Dank für den Beitrag. Ich denke, das war nicht einfach und dennoch sehr gut gelöst. 1+

    Doch ehrlich, das Bild, das hier gemalt wird, ist gruselig. Der Begriff Entmenschlichung fällt mir ein. Auf der anderen Seite, waren Stammtische und Kaffeekränzchen nicht schon immer genau so? Nur dass die Reichweite der Peinlichkeiten im Netz viel höher ist?

    Genauer müsste es im Text lauten: ist nicht, dass wir zu viel voneinander zu wissen glauben. Meint jemand, man könne jemanden aus dem Netz kennen? Doch Menschen sind anfällig dafür. Wir lieben Geschichten. Wir wünschen uns das. Das Hirn malt gerne Bilder, die unsere Welt „stimmig“ und einfach erscheinen lassen. Steht da doch „schwarz auf weiß“ (dabei lügt es leider „wie gedruckt“ – eigentlich wissen wir das). Dennoch: Dating geht heute online, weil wir träumen.

    Mal ein Tipp: Wahrheit hängt immer vom Kontext ab. Wir sprechen aber niemals über den Kontext und reden immer aneinander vorbei. Dazu kommt noch „kognitive Dissonanz“ (siehe Wikipedia). Wer das weiß, der kann das ausnutzen.

    Glaubst du nicht? Ich stimme dir da ja zu. Alles Quatsch. Natürlich hat Trump dutzende Kriege beendet, Putin ist ein „lupenreiner Demokrat“ und Impfung macht Roboter aus Kindern. Fragt sich nur, auf welchem Planeten. Hier jedenfalls nicht. Frage dich, wer davon was hat…

    Aber meine Haare werden mit xyz von Dr. Who viel weicher und dem Blähbauch (was immer das sein soll) ist auch verschwunden. Womit wir beim Geld und Macht wären. Es ist alles nur Geschäft und wir sind einfach zu doof und machen alles mit. Aber zu unserer Entschuldigung, der Druck ist auch massiv und die Welt ist kompliziert.

    Grüße von meinem Planeten.

  3. „Das gezielte Verkaufen einer vermeintlich realen eigenen Intimität“ – ist ja quasi, um Andy Warhol zu paraphrasieren, die „Demokratisierung“ eines Prinzips, was bislang das serielle Privatfernsehen mit seinen Reality-TV-shows vorgegaukelt hat. Nicht so sehr der Big Dschungelcamp Container, sondern die Kamerabegleitung von C-Promis und krassen Familien, die ja auch intimste Beobachtungen inszeniert/vorgaukelt. Jetzt halt von allen für alle…
    Nur so als Assoziationsvorgabe für mitlesene Kulturwissenschaften :)

  4. Nachtrag: „Professionalisierte Creator-Strukturen entwickeln Drehbücher“ – wieviele Mitglieder von Content-Teams sind wohl aus der TV-Branche rübergewechselt, wo sie früher dasselbe getan haben? Da wäre vermutlich eher eine Frage für Übermedien.de :)

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